La playa de otoño - Herbststrand

von Helmut Orpel



Der Herbst war in diesem Jahr früh gekommen, viel früher als sonst. Bereits Anfang September hatte es zu regnen begonnen und die letzten Gäste waren abgereist. Für Muñoz bedeutete dies ein herber Verlust, Normalerweise vermietete er Zimmer bis in den Oktober hinein. Selbst im Oktober kamen noch Badegäste an die Playa de Otoño, der Strand, der deswegen so genannt wurde, weil auch im Herbst dort die Luft und das Wasser noch so warm waren wie andernorts nur im Sommer.


Albrecht war es recht, dass die Fremden gegangen waren. Jetzt zog im Dorf wieder Ruhe ein. Die Einheimischen waren wieder unter sich und Albrecht zählte sich zu den Einheimischen. Schon dreißig Jahre lebte er in diesem Dorf auf der Insel. Damals war die Playa noch unendlich weit entfernt. Ein holpriger Weg führte vom Dorf aus erst mehrere Kilometer an Steinmauern entlang, dann auf die Landstraße, die careterra.
Diesen Steinmauernweg entlangzufahren war recht abenteuerlich. Wenn sich zwei Autos entgegenkamen, mussten sie geschickt manövrieren, um aneinander vorbei zu kommen. Oft gab es Unfälle, meist Blechschäden. Mit seinem alten VW-Käfer, den er vor dreißig Jahren mit auf die Insel gebrachte hat, schaffte er es spielend, die schwierigsten Hindernisse zu umfahren. Anita war darin noch geschickter als er. Sie kannte jedes Schlagloch persönlich. Er lächelte, als er an Anitas Fahrkünste dachte. Oben in den Bergen war sie einmal an einer Felswand entlanggeschrammt, als ihr ein Tourist in einem Cabrio entgegenfuhr. Hätte sie nicht so kaltblütig reagiert, wäre er in die Schlucht gestürzt.
Die Uhr zeigte sieben. Er hatte sein Tagwerk nicht vollenden können. Unzufrieden mit sich legte er die Skizzen in den Graphikschrank und beschloss, doch noch zu Muñoz zu gehen, um ein Glas Wein zu trinken. Er verschloss die schwere Eichentür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Patricia würde so früh nicht nach Hause kommen. Sicher würde sie erst zurückkommen, wenn er längst schliefe.
Albrecht dachte an die Landstraße, die hinunter zur Playa führte. Dort standen jetzt große Hotels mit unzähligen Zimmern. Viele Restaurants gab es dort: chinesische, italienische und deutsche Bierstuben. Paella wurde an jeder Ecke angeboten, zum Sonderpreis. Mit der Paella von früher hatte die allerdings wenig zu tun. Früher gab es an der Playa de Otoño nur ein einziges Restaurant, das von Montse, die wunderbar Fisch kochte. Man saß auf schmalen Holzbänken und verzehrte den Fisch. Dazu trank man einen einfachen Landwein, wie es ihn heute auf der ganzen Insel nicht mehr gibt. Der heutige Wein kam Albrecht gegenüber dem aus seiner Erinnerung wie kastriert vor. Er sah so aus wie Wein, schmeckte auch irgendwie ähnlich, war aber eine auf EU Normen getrimmte Flüssigkeit, die den Geschmack der Erde nicht mehr verriet.




Mit Anita hatte Albrecht den Wein, der unweit von der Playa de Otoño angebaut wurde, genossen. Er wuchs an ärmlichen Weinstöcken, die bei Sturm halb mit Sand bedeckt waren. Fast jeden Tag im Sommer, bis in den Herbst hinein, fuhr er mit dem immer älter werdenden VW und Anita auf dem Beifahrersitz vom Dorf hinunter bis zur Landstraße und auf der Landstraße zum Strand.
Bis in die Dunkelheit hinein badeten sie. Dann hatten sie auf Montses Bank gesessen, hatten Fisch gegessen und Wein getrunken. Anita mochte die russischen Dichter, sie las ihm Ossip Mandelstam, Negrassov und Sergej Jesenin vor. Sie konnte auch russisch und hatte an der Freien Universität Slawistik studiert. Dann hatte sie ihn geheiratet und war mit ihm nach Spanien gegangen.

Zehn Jahre war Anita nun schon tot. Und er fühlte sich schrecklich allein. Ein Arzt in Deutschland hatte die Erkrankung bei einer Routineuntersuchung festgestellt und sie sofort in ein Krankenhaus überwiesen. Aber es war damals bereits zu spät. Zwei Jahre hatte sie nach der Operation noch gelebt. Eine Zeitlang hatte Anita Bestrahlungen bekommen. Jeden Monat fuhr sie nach Palma zur Untersuchung, aber ihr Zustand besserte sich nicht. Die sterblichen Überreste von dem, was Anita einst gewesen war, die starke, blondgelockte wagnerianische Frau, lagen auf dem Friedhof am Hang, etwas oberhalb des Dorfes, das ihr Dorf gewesen war.
Aber für ihn lebte sie weiter. Überall war ihr Geist zu spüren. Selbst nach zehn Jahren konnte er Muñoz Bar nicht betreten, ohne nach ihr zu suchen. Sein Schmerz war noch so frisch wie damals an dem milden, schönen Herbstabend, als er zum letzten Mal ihre Hand hielt. In welcher Welt war sie nun wohl, seine Anita.

Lange lebte er einsam und traurig. Die Kunstwerke, die ihm den Wohlstand bescherten, der es ihm und ihr ermöglicht hatte, sorgenfrei auf der Insel zu leben, wollte nun keiner mehr. Sie vergammelten in den Regalen, aber er malte unverdrossen weiter, unzeitgemäß, wie ihm ein Galerist, der einst durch seine Werke reich geworden war, jetzt schrieb. Das Trinken wurde zur Manie. Albrecht soff so viel, dass selbst Muñoz sich um ihn Sorgen machte. Der elegante Caballero aus Deutschland, vernachlässigte sein Äußeres, kam mit struppigen Haaren und ungewaschenen Hemden. Anita hätte das nie zugelassen.


Albrecht betrat das Lokal von Muñoz. Es waren viele Leute im Raum und etliche saßen an den Tischen auf der Terrasse. Die Leute grüßten den Maler freundlich und luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen. Er lehnte ab, denn er bevorzugte die Einsamkeit. Er mochte die Leute, aber manchmal ertrug er deren Geschwätz nicht, besonders wenn er den Spott in ihren Augen zu bemerken glaubte. Und sie glaubten Grund zum Spott zu haben. Das spürte er.

Albrecht hatte wieder geheiratet. Sie hieß Patricia und war von Kuba auf die Insel gekommen. Zunächst hatte sie als Haushaltshilfe für ihn gearbeitet. Aber dann war sie nach und nach bei ihm eingezogen. In den ersten Wochen war es Leidenschaft. Er fühlte sich wieder jung, sie wollte Kinder, Kinder von ihm, der längst ihr Vater hätte sein können. Albrecht genoss das Verlangen der jungen Frau, oder besser das, was beide für Verlangen hielten.

Albrecht hatte das Erkalten rechtzeitig gespürt, das Erkalten dieser kurzlebigen Leidenschaft und mit dieser Kälte war die Melancholie zurückgekehrt. Er saß jetzt wieder öfter allein bei Muñoz in der Bar Espanyola an der Plaça. Er trank Wein, mehr als er vertrug und schaute den spielenden Kindern zu, die über den Platz rannten. Die Episode mit Patricia war eine kurze Unterbrechung gewesen, wie ein Sonnenstrahl an einem trüben Herbsttag in Deutschland, rasch verlöschend.

Albrecht hatte sich an die Fremden gewöhnt, die sommers hier ihre Zeit verbrachten. Als er vor dreißig Jahren auf die Insel gekommen war, gab es hier noch keinen Tourismus.
Mit dem Restaurant von Montse entwickelte der sich erst. Montse stammte aus dem Dorf. Ihre Eltern waren Bauern. Sie hatte zwei ältere Brüder. Der älteste bekam das wertvolle Ackerland in der Nähe des Dorfes. Er sollte den Hof weiterführen und die hundert alten Olivenbäume, die auf dem geerbten Land standen, repräsentierten einen gewissen Reichtum.
Montse erhielt das Land am Meer, das man damals für wertlos hielt, weil man darauf nichts pflanzen konnte und die Fischerei brachte auch nicht mehr viel ein. Sie nahm das Erbe an und haderte nicht mit ihrem Schicksal. Ihre Küche wurde überall gerühmt und bald wurde ihr Restaurant zum Geheimtipp für die Fremden, die von überall her auf die Insel kamen. Zügig baute sie das Lokal geschmackvoll aus.Die Holzhütte verschwand, bald entstand ein Gebäude aus Beton, daneben nach kurzer Zeit ein Hotel und noch ein Hotel. Montse hatte bereits in der ersten Phase ihrer Expansion Land dazugekauft. Heute gehört ihr die ganze Bucht, die ganze Playa de Otoño. Albrecht bewunderte die Geschäftstüchtigkeit der Frau aus dem Dorf, die er bereits als Teenager gekannt hatte. Damals war sie so arm. Heute hatte sie mehrere Fincas auf der Insel, aber immer noch stand sie gerne in der Küche und kochte Fisch.



Als er vor dreißig Jahren mit Anita von Berlin kommend auf die Insel gezogen war, gab es hier keinen Tourismus, nur einzelne, individuell Reisende: Hippies, Schriftsteller oder Maler wie er. Die inneren Gebiete waren der Landwirtschaft vorbehalten, die Dörfer waren durch den Wein- und Olivenanbau geprägt. Auf der Plaça trafen sich am Sonntag die Bauern mit ihren Familien. Die Frauen saßen auf der einen Seite des Cafés Espanya, die Männer auf der anderen und die Kinder tollten auf der Plaça herum.

Albrecht war der erste Fremde, der in diesem Dorf ein Haus kaufte. Der Kunstmarkt boomte damals. Er konnte mit hohen Einnahmen rechnen und das blieb so, einige Jahre lang. Immer öfter kam er auf die Insel. Anfangs waren es immer nur einige Wochen, die er mit Anita hier verbrachte.
In seinem Berliner Atelier stapelten sich die Aufträge, wie jetzt die unverkauften Bilder in seinen Regalen. Ein geschickter Anlageberater legte das Geld für ihn in Aktien, Fonds und anderen Wertpapieren an, von denen Albrecht keine Ahnung hatte und keine Ahnung haben wollte. Er ließ den Anlageberater gewähren und gab ihm freie Hand. Über viele Jahre hinweg hatte er es so gehalten und war dabei gut gefahren. Aber im letzten Herbst hatte er viel verloren. Er wusste es und wollte es dennoch nicht wissen. Patricia hatte ihm schwere Vorwürfe gemacht, dass er so leichtsinnig mit ihrem Geld umgegangen sei. Er zuckte nur die Schultern – ihrem Geld, es war doch in erster Linie sein Geld. Seit der Zeit gab es immer öfter Streit und sie kam abends erst sehr spät nach Hause. Er wusste, sie trieb sich in irgendwelchen Discos an der Playa herum. Teure Schuppen, in die er nie hineingegangen wäre.

Muñoz bracht Albrecht das dritte Glas. Er hatte von den Tintenfischen gegessen, das milderte die Wirkung des Alkohols etwas. Albrecht nickte dankbar, als Muñoz das volle Glas neben den Teller stellte. Jetzt war es halb zehn und draußen war es schon dunkel geworden. Langsam trank er sein Glas aus und steckte den Notizblock, der vor ihm auf dem Tisch lag, in die Jacke, die er wegen der aufkommenden Kühle über die Schulter gehängt hatte. Er verabschiedete sich von Muñoz durch ein kurzes Nicken und dessen Frau winkte ihm noch lächelnd zu. Albrecht überquerte die Plaça. Die Kinder waren immer noch aktiv und spielten moros y cristianos, ein Spiel, das hier im Dorf wohl schon seit 1000 Jahren von den Kindern gespielt wurde. Albrecht ging über den Platz und bog in seine Gasse ein. In seinem Haus brannte kein Licht, wie er erwartet hatte. Er ging in den Schuppen. Dort stand er noch. Der alte VW Käfer. Als er ihn anließ, tuckerte er erst und es schien, als wolle er nicht anspringen. Aber dann willige der Motor doch ein, sich zum letzten Mal in seiner Todesruhe stören zu lassen.
Die Steinmauern am Weg gab es längst nicht mehr. Sie waren einer modernen, mit EU-Mitteln finanzierten Straße gewichen. Bis zur Landstraße dauerte es nur ein paar Minuten und die Gefahr, mit einem entgegenkommenden Fahrzeug zusammenzustoßen, war unter normalen Umständen nicht mehr gegeben. Nach kurzer Zeit sah Albrecht schon die Lichter der Playa de Otoño. Er bog ab und parkte dort, wo einst Montses Weinberg gewesen war. Heute stand hier ein großes Hotel, das genügend Parkplätze vorhielt, um selbst in der Hochsaison gerüstet zu sein. Die Bars in den Straßen waren sehr belebt. In den Bierkneipen hörte er deutsche Musik und grölende Menschen. Er ging ungerührt vorbei. Weiter unten waren die Discos. Vor einer von ihnen erkannte er Patricia. Sie stand dort mit einer Freundin und rauchte. Patricia - ein schönes Geschöpf, musste Albrecht zugeben. Schlank, groß, eine Figur, wie man sie selten sieht, grüne Augen und schwarze, gelockte Haare, eine Perle aus der Karibik. Für kurze Zeit hatte die Leidenschaft seine Einsamkeit vertrieben - Illusionen im Meer der Vergänglichkeit.
Er drückte sich enger an die dunkle Hauswand gegenüber der Disco. Sie hatte ihn nicht bemerkt und er konnte seinen Weg zum Strand fortsetzen. Albrecht wunderte sich selbst, wie wenig ihn die Begegnung mit Patricia berührte. Hatte er sie losgelassen, war er noch in ihrer Welt, war er noch in der Welt? Mit festem Schritt ging er weiter. Er roch das salzige Wasser des Meeres, er spürte die warme Prise, die ihm entgegenkam – viel zu warm für seine Jacke, die er immer noch um die Schulter trug. Dann öffnete sich plötzlich der Blick und er sah weit hinaus in die Bucht. Am Strand gingen noch viele Menschen spazieren. Hand in Hand wie er einst mit Anita. Er ging weiter zum Wasser. Im Sand fiel ihm das Gehen schwer und er spürte die Arthrose in seinen Knien, die er normalerweise aus seinem Bewusstsein verdrängen konnte. Er ging und ging. Der Weg kam ihm endlos vor bis er das Wasser erreichte. Die Wellen schlugen sanft an den Strand. Er spürte die Feuchtigkeit in seinen Schuhen, aber es störte ihn nicht. Tränen traten wieder in seine Augen. Dann ein Licht, ein Licht wie vorhin auf dem Platz, am Abendhimmel hatte es gezuckt, für einen Moment nur, aber zauberhaft schön. Er hatte es malen wollen.
„Komm komm“, sagte die sanfte Frauenstimme. „Komm, ich bringe dich nach Hause."Auf einmal fühlte er, wie es warm in ihm wurde. Er blickte durch den Tränenschleier seiner Augen und erkannte das Licht, die Frau mit dem herrlichsten Lachen, das er je gehört hatte und den blonden Locken, fast etwas zu wagnerianisch, wie er fand, aber auch sie war ja älter geworden und er folgte ihr nach.

(Fotografien Ana Orpel)

Die Nacht von Saint Cloud

nach einem Gemälde von Edvard Munch

Gedankenschwer der Kopf,
das Fensterkreuz wirft seinen Schatten.
Wie ein Geist, der Alte dort,
der Vater, ganz in sich versunken.
Ein Opfer seiner Zeit
wie der Zylinderhut.
Blau ist das Licht
der frühen Stunde.

Die Mole fern im Morgennebel,
der Abschied liegt schon lang zurück.
Erinnerungen werden wach,
der Möwenschrei von Asgarstrand,
Des kranken Mädchens Kopf,
Melancholie in ihren Augen,
Sehnsucht nach dem Leben
niemals war er an ihrem Grab.

Es war nur eine Nacht,
in der die Welt im Tanz sich drehte,
und der Morgen danach,
fand sie allein ihrem Bett.
Der Geliebte war längst fort
still hat er sich hinausgeschlichen,
und es blieb nur das Gefühl
der schalen Leere da.

Der Vorhang weht im Wind,
das Lampenlicht ist schon verloschen.
Ein dunkler Schatten bleibt.
Er wird nie von der Seele weichen,
nie mehr das helle Licht
der schlanken Birkenwälder.
Ein Herz, das schnell zerbricht,
des Lebens Ungeduld.